Urteilen – Eine Geschichte aus der Zeit von Laotse.

Hallo ihr Lieben,

ich habe das Gefühl, manchmal macht sich jemanden einen Spaß daraus, über Nacht, während eines Schultages oder auch innerhalb weniger Minuten einfach mein Leben zu nehmen, es ordentlich durchzuschütteln und dann unauffällig an seinen Platz zurückzulegen. Wenn ich wieder hinschaue, ist alles anders als vorher, und das wird mir zu viel. Ich verstehe die Veränderungen nicht, bin nicht mit ihnen einverstanden, sie verwirren mich, sie machen mich traurig, ich kann nicht mit ihnen umgehen und ich wünsche mir mein Leben zurück, weil ich mich, so wie es war, gut in ihm zurechtgefunden habe.

Dann erinnere ich mich daran, das, was geschieht, als das Beste für diesen Augenblick anzusehen, auch, wenn ich den Sinn hinter der Veränderung, der Herausforderung oder des Schicksalsschlages nicht, nein, noch nicht verstehe. Ich atme ein, atme aus und lasse mich einfach fallen, lasse mich mitten ins Leben fallen, denn das ist der Ort, an dem ich sein möchte. Ich lasse mich tragen und vertraue – ich vertraue einfach ins Universum hinein und hoffe, dass es dort jemanden gibt, Gott?, der sich meiner Hoffnung und meinem Vertrauen verbunden fühlt.
Es gibt eine wunderbare Geschichte, die ich zu diesem Thema mit euch teilen möchte, und ich würde mich freuen, wenn ihr einen Kommentar hinterlasst.

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Die nachfolgende Geschichte trug sich zur Zeit Laotses in China zu und Laotse liebte sie sehr. Ein alter Mann lebte in einem Dorf, sehr arm, aber selbst Könige waren neidisch auf ihn, denn er besaß ein wunderschönes weißes Pferd. Könige boten phantastische Summen für das Pferd, aber der Mann sagte dann: „Dieses Pferd ist für mich kein Pferd, sondern wie ein Mensch. Und wie könnte man einen Menschen, einen Freund verkaufen?“ Der Mann war arm, aber sein Pferd verkaufte er nie.

Eines Morgens fand er sein Pferd nicht im Stall. Das ganze Dorf versammelte sich und die Leute sagten: „Du dummer alter Mann! Wir haben immer gewusst, dass das Pferd eines Tages gestohlen würde. Es wäre besser gewesen, es zu verkaufen. Welch ein Unglück!“
Der alte Mann sagte: „Geht nicht so weit, das zu sagen. Sagt einfach: das Pferd ist nicht im Stall. So viel ist Tatsache; alles andere ist Urteil. Ob es ein Unglück ist oder ein Segen, weiß ich nicht, weil dies ja nur ein Bruchstück ist. Wer weiß, was darauf folgen wird?“ Die Leute lachten den Alten aus. Sie hatten schon immer gewusst, dass er ein bißchen verrückt war.

Aber nach 15 Tagen kehrte eines Abends das Pferd plötzlich wieder zurück. Es war nicht gestohlen worden, sondern in die Wildnis ausgebrochen. Und nicht nur das, es brachte auch noch ein Dutzend wilder Pferde mit.
Und wieder versammelten sich die Leute und sie sagten: „Alter Mann, du hattest Recht. Es war kein Unglück, es hat sich tatsächlich als ein Segen erwiesen.“ Der Alte entgegnete: „Wieder geht ihr zu weit. Sagt einfach: das Pferd ist zurück. Wer weiß, ob das ein Segen ist oder nicht? Es ist nur ein Bruchstück. Ihr lest nur ein einziges Wort in einem einzigen Satz – wie könnt ihr das ganze Buch beurteilen?“ Dieses Mal wussten die Leute nicht viel einzuwenden, aber innerlich wussten sie, dass der Alte Unrecht hatte. Zwölf herrliche Pferde waren gekommen …

Der alte Mann hatte einen einzigen Sohn, der begann, die Wildpferde zu trainieren. Schon eine Woche später fiel er vom Pferd und brach sich die Beine. Wieder versammelten sich die Leute und wieder urteilten sie. Sie sagten: „Wieder hattest du Recht! Es war ein Unglück. Dein einziger Sohn kann nun seine Beine nicht mehr gebrauchen und er war die einzige Stütze deines Alters. Jetzt bist du ärmer als je zuvor.“ Der Alte antwortete: „Ihr seid besessen vom Urteilen. Geht nicht so weit. Sagt nur, dass mein Sohn sich die Beine gebrochen hat. Niemand weiß, ob das ein Unglück oder ein Segen ist. Das Leben kommt in Fragmenten und mehr bekommt ihr nie zusehen.“

Es begab sich, dass das Land nach ein paar Wochen einen Krieg begann. Alle jungen Männer des Ortes wurden zwangsweise zum Militär eingezogen. Nur der Sohn des alten Mannes blieb zurück, weil er verkrüppelt war. Der ganze Ort war von Klagen und Wehgeschrei erfüllt, weil dieser Krieg nicht zu gewinnen war, und man wusste, dass die meisten der jungen Männer nicht nach Hause zurückkehren würden.
Sie kamen zu dem alten Mann und sagten: „Du hattest Recht, alter Mann – es hat sich als Segen erwiesen. Dein Sohn ist zwar verkrüppelt, aber immerhin ist er noch bei dir. Unsere Söhne sind nun für immer fort.“ Der alte Mann antwortete wieder und sagte: „Ihr hört nicht auf zu urteilen. Niemand weiß! Sagt nur dies: dass man eure Söhne in die Armee eingezogen hat und dass mein Sohn nicht eingezogen wurde. Doch nur Gott, nur das Ganze weiß, ob dies ein Segen oder ein Unglück ist.“

Im Urteilen sind wir nicht eins mit dem Ganzen. Wir sind mit Bruchstücken beschäftigt und aus kleinen Dingen ziehen wir voreilige Schlüsse. Im Urteilen bleiben wir stehen und trennen uns vom Wachstum. Der Verstand neigt zum schnellen Urteilen, denn für ihn ist es immer beunruhigend, in Bewegung zu bleiben. Tatsächlich ist die Reise nie zu Ende. Der Pfad endet – ein anderer beginnt, die ein Tür schließt sich, eine andere öffnet sich. Wir erklimmen einen Gipfel, es gibt einen höheren Gipfel. Gott ist eine endlose Reise. Die Menschen, die mutig genug sind, sich über das Ziel keine Sorgen zu machen, die mit der Reise zufrieden sind, einfach nur im Augenblick leben und in ihn hineinwachsen, diese Menschen sind fähig, mit dem Ganzen zu gehen.

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4 Kommentare zu “Urteilen – Eine Geschichte aus der Zeit von Laotse.

  1. :)) Defintiv kommt sie genau richtig, sehe ich auch so!
    Du bist ein Sonnenschein, der immer wieder seine wärmenden Strahlen einfach so verschenkt 🙂

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